Montag, 1. November 2021

Volkstrauertag 2021

Als Bürgermeister-Stellvertreterin habe ich auch eine edle Tradition übernommen:
4 Reden auf unseren Friedhöfen zum Volkstrauertag.Natürlich war es immer dieselbe Rede - die Inhalte gelten ja für alle Teilorte gleich. Hier sind meine ganz persönlichen Gedanken dazu:

 

„Liebe Kirchengemeinde,

 

Wir sind heute zur gemeinsamen Gedenkfeier auf diesem Friedhof zusammen gekommen, um den  Volkstrauertag gemeinsam zu  begehen.

 

Diese Tradition  soll seit 100 Jahren  an die 17 Millionen Menschen erinnern, die im 1. Weltkrieg ums Leben gekommen sind.

Der Gedanke von Versöhnung und Verständigung sollte nach diesem schrecklichen Weltkrieg im Mittelpunkt stehen. 
Ein schöner Gedanke - doch das konnte nicht verhindern, dass bald darauf ein neuer, noch viel größerer Weltkrieg folgte , bei dem dann über 65 Millionen Menschen getötet wurden.

 

Beide Kriege haben unermessliches Leid über unzählige Menschen gebracht. Für leidende Menschen hat ein  Krieg nichts Edles und Heroisches an sich.
Während gefallene Soldaten stets geehrt wurden, wollte man die  Ermordeten danach gerne vergessen:
die Juden, Sinti und Roma, die Widerstandskämpfer und zahlreiche andere Opfer. Die  sollten anonym und gesichtslos aus der Erinnerung getilgt werden.
Umso wichtiger ist es für uns, in Gedenkfeiern nicht nur an die gefallenen Soldaten der ehemaligen Kriegsgegner zu erinnern, sondern auch an die Menschen, die bewußt verschwiegen wurden.

Beim  Gedenken des Volkstrauertages darf es sich daher nicht um ein leeres Ritual handeln, das in Sonntagsreden abgefeiert wird.
Er muß ein gelebtes Bekenntnis zu unserer Vergangenheit  sein.

Das gilt auch, und vor allem , für die dunklen Seiten unserer Geschichte.
Wir können diese nicht einfach
abstreifen und vergessen oder gar verdrängen – das würde bedeuten, unsere eigenen Wurzeln abzuschneiden.
Das
gelebte Bekenntnis zu unserer vollständigen Vergangenheit macht uns heute zu dem, was wir sind.

Doch beide Kriege sind schon lange Vergangenheit in unserem Land, die Zeitzeugen von damals verschwinden mehr und mehr aus unserem Leben.
Zurück bleiben Erzählungen aus einer scheinbar völlig fremden Welt.

Meine Generation, und die der noch Jüngeren, sind in einem Land und in einer Zeit aufgewachsen, in der wir lange vergessen durften, dass es bedrohliche Kriege gibt.

Es schien immer nur aufwärts zu gehen für uns und unser Land. Frieden und Wohlstand waren selbstverständlich.


Denn die Menschen nach dem Krieg  hatten aus den Geschehnissen gelernt und für uns, ihre Nachkommen, Strukturen geschaffen, die weitere Kriege verhindern sollten:
Die Gründung der Vereinten Nationen und ein vereintes Europa gehören dazu.

Deutschland war maßgeblicher Teil des größten "Frieden-Projektes der Welt - der EU

Doch auch wir mussten in den letzten Jahren lernen, dass  Europa zu zerreißen droht

 

Die Sprache der Verachtung und des Hasses, der Abgrenzung gegenüber dem Anderen

scheint gerade heute erneut an Überzeugungskraft zu gewinnen
Wir erleben europaweit ein Erstarken jener verhängnisvollen Propagandamuster,

die im letzten Jahrhundert den Kontinent beinahe in den Abgrund gerissen hätten.
ES gab und gibt in Europe massive Versuche Demokratie zu untergraben, moralische und zivilisatorische Standards außer Kraft zu setzen.

 

Wenn wir an den Krieg denken, dann haben wir immer auch die Demokratie vor Augen.
Denn sie ist unser wichtigster Schutz, und sie gehört, folgerichtig, auch zu den ersten Opfern autoritärer Machtansprüche.

 

Unser Gedenken heute ist also fest verbunden mit dem Kampf um die Demokratie.
Die Vergangenheit hat uns gelehrt, wie schnell es geht, die Demokratie für unnötig zu erklären und am Ende ganz abzuschaffen

 

Vor diesem Hintergrund habe ich nach unserer letzten Wahl einen Artikel eines bekannten französischen Philosophen entdeckt, der sich  bei uns Deutschen bedankt hat. 
Das war außergewöhnlich, vorher hatte ich immer nur davon gelesen wie langweilig oder unzulänglich unsere Wahl doch war.

 

Er  aber schrieb: "Von Paris aus betrachtet war diese letzte Bundestagswahl eine schöne Lehrstunde in Demokratie - in einem hoch gefährdeten Europa.
Diese deutsche Wahl war eine ganz und gar außergewöhnliche Wahl.

Da ist einmal die Wahlbeteiligung von mehr als 76 Prozent, die die Lebendigkeit dieser Demokratie bezeugt.
Es war eine Wahl, in der die radikale Linke nicht einmal die Fünf-Prozent-Hürde schaffte. In der die radikale Rechte immer noch zu stark ist, aber doch viel schwächer als in meinem Land. "

 

Und er führt weiter aus:

"Natürlich war es ein Kampf ohne Gnade…...

Aber anders als bei uns in Frankreich waren in Deutschland weder der Islam noch die Zuwanderung ein Thema. Weil sie tabu gewesen wären?---Keineswegs.

 …Angela Merkel hatte 2015 den Mut, "Wir schaffen das" zu sagen, eine ebenso schlichte wie nahezu biblische Formel.

Heute hat die Mehrheit der damaligen Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan einen Job. Es ist wirklich geschafft. Man musste über den ganzen Komplex nicht mehr reden, weil es in Berlin diesen reinen Moment der Größe gab……"

 

Er endet mit den Worten:
"Nun ist das Unwetter, das man über Berlin erwartet und angekündigt hat, aber gerade dort vermieden worden. Ganz im Gegenteil: Die Dämonen des Extremismus, des Hasses und der Fremdenfeindlichkeit fanden bei dieser deutschen Wahl ….wirksame Blitzableiter…..dieses Deutschland erteilt der Welt, insbesondere Frankreich, eine schöne Lehrstunde in Demokratie. Danke, Deutschland."

 

Nachdem ich diesen Text gelesen hatte war ich stolz - stolz auf Deutschland

Weil mein Land, das 2 Weltkriege zu verantworten hatte, aus dem eigenen Leid der Vergangenheit gelernt hat. Weil mein Land in einer tiefen Krise wahre Größe gezeigt hat und Mitgefühl für Menschen in wirklicher Not. Und weil mein Land für die Erhaltung der Demokratie kämpft.

 

Auch heute stehen wir wieder vor großen Problemen

Wir erleben rings um uns eine Welt, die aus den Fugen bricht. Aber auch das können wir schaffen.
Wir tragen durch das
Leid der Vergangenheit eine Stärke in uns, die uns helfen wird, den schwierigen Weg in die Zukunft  voller Menschlichkeit  zu bewältigen.

 

Lasst uns an diesem Volkstrauertag  an das Wohl der kommenden Generationen denken - so wie es unsere Vorfahren auch für uns getan haben. Zu unserem Wohle, davon haben wir alle profitiert.
Lasst uns gemeinsam unsere Herzen öffnen, um Anteil am Leben der Anderen zu nehmen. Sie zum Teil  unserer eigenen Welt werden zu lassen.

Wir können mit unserer  Menschlichkeit viel beitragen - für den Erhalt von Demokratie, Nachhaltigkeit und Frieden.

 

 

Wenn noch jemand den ganzen Artikel  in der Süddeutschen Zeitung lesen möchte: Merci Deutschland

1 Kommentar:

  1. Wow, eine klasse Rede! "Lasst uns gemeinsam unsere Herzen öffnen, um Anteil am Leben der Anderen zu nehmen. Sie zum Teil unserer eigenen Welt werden zu lassen."

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