Als Bürgermeister-Stellvertreterin habe ich auch eine edle Tradition übernommen:
4 Reden auf unseren Friedhöfen zum Volkstrauertag.Natürlich war es immer dieselbe Rede - die Inhalte gelten ja für alle Teilorte gleich. Hier sind meine ganz persönlichen Gedanken dazu:
„Liebe Kirchengemeinde,
Wir sind heute zur gemeinsamen Gedenkfeier auf diesem Friedhof zusammen gekommen, um den Volkstrauertag gemeinsam zu begehen.
Diese Tradition soll seit 100 Jahren an die 17 Millionen Menschen erinnern, die im 1. Weltkrieg ums Leben gekommen sind.
Der Gedanke von
Versöhnung und Verständigung sollte nach diesem schrecklichen Weltkrieg im
Mittelpunkt stehen.
Ein schöner Gedanke -
doch das konnte nicht verhindern, dass bald darauf ein neuer, noch viel
größerer Weltkrieg folgte , bei dem dann über 65 Millionen
Menschen getötet wurden.
Beide
Kriege haben unermessliches Leid über unzählige Menschen gebracht. Für leidende
Menschen hat ein Krieg nichts Edles und Heroisches an sich.
Während gefallene Soldaten stets geehrt wurden, wollte man die Ermordeten danach gerne vergessen:
die Juden, Sinti und Roma, die Widerstandskämpfer und zahlreiche andere Opfer.
Die sollten anonym und gesichtslos aus
der Erinnerung getilgt werden.
Umso wichtiger ist es für uns, in Gedenkfeiern nicht nur an die gefallenen
Soldaten der ehemaligen Kriegsgegner zu erinnern, sondern auch an die Menschen,
die bewußt verschwiegen wurden.
Beim Gedenken des Volkstrauertages
darf es sich daher nicht um ein leeres Ritual
handeln, das in Sonntagsreden abgefeiert wird.
Er muß ein gelebtes Bekenntnis zu unserer
Vergangenheit sein.
Das gilt auch, und vor allem , für die dunklen Seiten unserer Geschichte.
Wir können diese nicht einfach abstreifen und vergessen oder gar verdrängen – das würde bedeuten, unsere eigenen Wurzeln
abzuschneiden.
Das gelebte Bekenntnis zu unserer vollständigen Vergangenheit macht uns heute zu dem, was wir sind.
Doch
beide Kriege sind schon lange Vergangenheit in unserem Land, die Zeitzeugen von damals verschwinden mehr und
mehr aus unserem Leben.
Zurück bleiben Erzählungen aus einer scheinbar völlig fremden Welt.
Meine Generation, und die der noch Jüngeren, sind in einem Land und in einer Zeit aufgewachsen, in der wir lange vergessen durften, dass es bedrohliche Kriege gibt.
Es schien immer nur aufwärts zu gehen für uns und unser Land. Frieden und Wohlstand waren selbstverständlich.
Denn die Menschen nach dem Krieg hatten
aus den Geschehnissen gelernt und für uns, ihre
Nachkommen, Strukturen geschaffen, die weitere Kriege verhindern
sollten:
Die Gründung der Vereinten Nationen und
ein vereintes Europa gehören dazu.
Deutschland war maßgeblicher Teil des größten "Frieden-Projektes der Welt - der EU
Doch auch wir mussten in den letzten Jahren lernen, dass Europa zu zerreißen droht
Die Sprache der Verachtung und des Hasses, der Abgrenzung gegenüber dem Anderen
scheint gerade heute
erneut an Überzeugungskraft zu
gewinnen
Wir erleben europaweit ein Erstarken jener verhängnisvollen Propagandamuster,
die im letzten
Jahrhundert den Kontinent beinahe in den Abgrund gerissen hätten.
ES gab und gibt in Europe massive Versuche Demokratie zu untergraben, moralische und zivilisatorische Standards außer
Kraft zu setzen.
Wenn wir an den
Krieg denken, dann haben wir immer auch die Demokratie
vor Augen.
Denn sie ist unser wichtigster Schutz, und sie gehört, folgerichtig, auch zu
den ersten Opfern autoritärer Machtansprüche.
Unser Gedenken heute ist also fest verbunden mit dem Kampf um die Demokratie.
Die Vergangenheit hat uns gelehrt, wie schnell es geht, die Demokratie für
unnötig zu erklären und am Ende ganz
abzuschaffen
Vor diesem
Hintergrund habe ich nach unserer letzten Wahl einen Artikel eines bekannten französischen Philosophen entdeckt, der
sich bei uns Deutschen bedankt hat.
Das war außergewöhnlich, vorher hatte ich immer nur davon gelesen wie
langweilig oder unzulänglich unsere Wahl doch war.
Er aber schrieb: "Von Paris aus betrachtet
war diese letzte Bundestagswahl eine schöne
Lehrstunde in Demokratie - in einem hoch gefährdeten Europa.
Diese deutsche Wahl war eine ganz und gar außergewöhnliche Wahl.
Da ist einmal die Wahlbeteiligung von mehr als 76 Prozent, die
die Lebendigkeit dieser Demokratie bezeugt.
Es war eine Wahl, in der die radikale Linke
nicht einmal die Fünf-Prozent-Hürde schaffte. In der die radikale Rechte immer
noch zu stark ist, aber doch viel schwächer als in meinem Land. "
Und er führt weiter aus:
"Natürlich war es ein Kampf ohne Gnade…...
Aber anders als bei uns in Frankreich waren in Deutschland weder der Islam noch die Zuwanderung ein Thema. Weil sie tabu gewesen wären?---Keineswegs.
…Angela Merkel hatte 2015 den Mut, "Wir schaffen das" zu sagen, eine ebenso schlichte wie nahezu biblische Formel.
Heute hat die Mehrheit der damaligen Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan einen Job. Es ist wirklich geschafft. Man musste über den ganzen Komplex nicht mehr reden, weil es in Berlin diesen reinen Moment der Größe gab……"
Er endet mit den
Worten:
"Nun ist das Unwetter, das man über
Berlin erwartet und angekündigt hat, aber gerade dort vermieden worden. Ganz im
Gegenteil: Die Dämonen des Extremismus, des
Hasses und der Fremdenfeindlichkeit fanden bei dieser deutschen Wahl
….wirksame Blitzableiter…..dieses Deutschland erteilt der Welt,
insbesondere Frankreich, eine schöne Lehrstunde in Demokratie.
Danke, Deutschland."
Nachdem ich diesen Text gelesen hatte war ich stolz - stolz auf Deutschland
Weil mein Land, das 2 Weltkriege zu verantworten hatte, aus dem eigenen Leid der Vergangenheit gelernt hat. Weil mein Land in einer tiefen Krise wahre Größe gezeigt hat und Mitgefühl für Menschen in wirklicher Not. Und weil mein Land für die Erhaltung der Demokratie kämpft.
Auch heute stehen wir wieder vor großen Problemen
Wir
erleben rings um uns eine Welt, die aus den Fugen bricht. Aber auch das können wir schaffen.
Wir tragen durch das
Leid der Vergangenheit eine Stärke in
uns, die uns helfen wird, den schwierigen Weg in die Zukunft voller Menschlichkeit zu bewältigen.
Lasst uns an diesem
Volkstrauertag an das Wohl der kommenden Generationen denken - so
wie es unsere Vorfahren auch für uns
getan haben. Zu unserem Wohle, davon haben wir alle profitiert.
Lasst uns gemeinsam unsere Herzen öffnen, um Anteil am Leben der Anderen zu
nehmen. Sie zum Teil unserer eigenen Welt werden zu lassen.
Wir können mit unserer Menschlichkeit viel beitragen - für den Erhalt von Demokratie, Nachhaltigkeit und Frieden.
Wenn noch jemand den ganzen Artikel in der Süddeutschen Zeitung lesen möchte: Merci Deutschland
Wow, eine klasse Rede! "Lasst uns gemeinsam unsere Herzen öffnen, um Anteil am Leben der Anderen zu nehmen. Sie zum Teil unserer eigenen Welt werden zu lassen."
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