Mittwoch, 5. Juni 2024

Ehe wir untergehen, drehen wir durch - beginnen wir endlich damit die heutigen Probleme zu lösen!

 Ein neuer Lieblingsartikel von mir, den ich jedem nur ans Herz legen kann. Was mich besonders anspricht: der politische Kampf mit seinem Geschwurble macht einfache Lösungen schier unmöglich und bringt uns alle an unsere Grenzen. Und das wirklich ohne Sinn und Verstand.

"Tausende verwirrende Worte müssen simpelste Tatsachen umschwirren, bis man sie am Ende nicht mehr sieht"

Diese Aussage  erinnert mich an das Verbrenner-Aus (hier sehr gut dargelegt) und hundert Dinge mehr...

hier Zeit Ein Essay von Bernd Ulrich 3. Juni 2024,

Die aktuellen Hochwasserkatastrophen machen ein fatales Paradox deutlich: Je schlimmer die Klimakrise zuschlägt, desto brutaler das Rollback in der Klimapolitik.

Klimapolitik: Um die ganzen Verdrängungen auszuhalten, um all die gesagten und verschwiegenen Worte einigermaßen in der Balance halten zu können, dafür braucht eine Gesellschaft, die immer tiefer in die Klima- und Artenkrise geht, logischerweise immer mehr Kraft, um sich der Wirklichkeit zu stellen.

Um die ganzen Verdrängungen auszuhalten,
um all die gesagten und verschwiegenen Worte einigermaßen in der Balance halten zu können,
dafür braucht eine Gesellschaft, die immer tiefer in die Klima- und Artenkrise geht,
logischerweise immer mehr Kraft, um sich der Wirklichkeit zu stellen. 

Tyler Spangler 

Bevor es hier um die schon wieder stattfindenden Hochwasserkatastrophen geht, diesmal in Süddeutschland, muss eine Grundregel westlicher, offener, demokratischer Gesellschaften im 21. Jahrhundert aufgerufen werden. Sie lautet: Ehe wir untergehen, drehen wir durch.

Schließlich kann man viele der fundamentalen Bedrohungen in unserem Zeitalter schon seit Langem kommen sehen. Das gilt für die Klimakrise und das Artensterben wie für die Aggression Russlands und anderer autoritärer Staaten. Es gilt ebenso für die KI, die allerdings nicht nur bedrohlich ist oder sein müsste. 

Und weil man diese Bedrohungen kommen sieht, müssen offene Gesellschaften zunehmend einen gewaltigen mentalen, kommunikativen und politischen Aufwand betreiben, um die sich auftürmenden Gefahren zu verdrängen. Dieser Aufwand treibt immer verrücktere Blüten und könnte irgendwann in einem allgemeinen Durchdrehen enden, wenn man nicht stattdessen damit beginnt, die Probleme, die man heute nun mal hat, in der Größe und mit der Dringlichkeit zu lösen, die es eben braucht.

Wer den Schaden hat

Womit wir beim Hochwasser wären, in dem gerade Menschen leiden und sterben, in dem Rettungskräfte bis zur Erschöpfung gegen das Wasser kämpfen – oder darüber hinaus. Auch Politiker sind wieder "vor Ort", wie man dann so sagt, Milliarden-Versprechen purzeln nur so vom Himmel, höhere Dämme werden wieder mal angekündigt.

Das allein ist natürlich noch nicht verrückt, im Gegenteil, es ist menschlich, es ist solidarisch, und es hilft für den Moment. Wobei sich schon an dieser Stelle die Katastrophe merkwürdig mit der Routine kreuzt, schließlich kommen die sogenannten Jahrhundertfluten mittlerweile fast jährlich.

Verrückt wirkt es erst, wenn man einen Schritt zurücktritt und sieht, dass sich mittlerweile eine zweite Routine eingebürgert hat: Je schlimmer die Klimakrise zuschlägt – desto brutaler das Rollback in der Klimapolitik. Diese Paradoxie deutete sich bereits im Jahr 2021 an, als die Ahrtal-Katastrophe den Absturz der Grünen in den Umfragen keineswegs bremsen konnte, die Plagiatsvorwürfe gegen Annalena Baerbock wogen in der Öffentlichkeit schwerer als die Bilder vom Hochwasser und die Ahnung darum, welch ungeheure Summen das alles verschlingen würde.

Viele Schichten von Verdrängung

Im vergangenen Jahr, 2023, war der Sommer in aller Welt von Fluten geprägt, in den westlichen Ländern aber noch mehr von Waldbränden. Der Himmel über New York war orange, und deutsche Urlauber flohen von griechischen Inseln. Im selben Sommer begann das große klimapolitische Rollback, das bis heute andauert. Und nein, es lag nicht am mangelhaften Gebäude-Energie-Gesetz von Robert Habeck, denn es geschah in der gesamten westlichen Welt. Man darf davon ausgehen, dass der Britische Premierminister von Habecks Gesetz gar nichts wusste, als er seine eigene Rolle rückwärts bei Autos und Heizungen ankündigte.

Dieses Jahr – der Sommer hat noch nicht mal richtig begonnen – erleben wir Dürren in Spanien und eben Hochwasser in Deutschland, während zur selben Zeit beim Europawahlkampf der Sturm gegen den Green Deal läuft, wir sehen Menschen in Autos schwimmen und Menschen in CDU, CSU und FDP für den Verbrennermotor kämpfen. Und durch irgendeinen unheimlichen Mechanismus läuft beides fast völlig parallel: Klimapolitik und Klimakatastrophe, Wahlkampf und Wirklichkeit spielen in getrennten Welten.

Man sollte in diesem Zusammenhang klinische Begriffe wie Schizophrenie vermeiden. Aber sonderlich zuträglich ist so etwas für eine Gesellschaft vermutlich nicht. Die wichtigere Frage wäre ohnehin: Wie ist derartiges überhaupt möglich?

Am vergangenen Wochenende gab es dazu eine vielsagende Szene. Als Markus Söder und Robert Habeck gemeinsam im bayerischen Hochwasser standen und der Klimaschutzminister anfing, über den Zusammenhang von Wetter und Klima zu reden, wusste der neben ihm stehende bayerische Ministerpräsident plötzlich gar nicht mehr, wo er noch hinschauen sollte, jeder konnte und sollte vermutlich auch sehen: Das will er einfach nicht hören. Das ist verständlich, denn spätestens am Ende dieser Woche, wenn die Wasser mutmaßlich abfließen, wird sich Markus Söder wieder auf die bayerischen Marktplätze stellen und versprechen, dass sein Mann in Brüssel, der Weber Manfred, das unverbrüchliche Recht auf die gewohnte automobile Antriebsart bis aufs Messer verteidigen wird – wenn die CSU nur genug Stimmen bekommt.

Allerdings beschränken sich jene, die das Rollback bei der Klimapolitik betreiben, durchaus nicht nur aufs Weghören wie Söder bei seinem Gummistiefeltanz mit Habeck.
Damit fortschreitende Klimakrise und rückschreitende Klimapolitik sich im öffentlichen Diskurs so gar nicht berühren, müssen viele Schichten von Verdrängung um die Wirklichkeit gelegt werden, eine enorme Konfusionsenergie ist erforderlich, Tausende verwirrende Worte müssen simpelste Tatsachen umschwirren, bis man sie am Ende nicht mehr sieht.

Ehe wir untergehen, drehen wir durch

Gehen wir die Sache einmal durch, um einen klaren Kopf zu kriegen und am Ende wieder zu Atem zu kommen:

Um mit dem Harmlosen zu beginnen: Sind die Überschwemmungen überhaupt eine Folge der Erderwärmung, oder würden sie nicht sowieso stattfinden? Nun, die Antwort ist hier immer dieselbe, was natürlich niemanden daran hindert, die Frage jedes Mal wieder zu stellen.
Also: Die Wahrscheinlichkeit von Extremwetterereignissen nimmt bei steigender Erhitzung unweigerlich zu. Grob gesagt: Je mehr Energie die Menschheit in die Atmosphäre leitet, desto mehr Feuchtigkeit kann die Luft aufnehmen – und all dieses Wasser wird sich in immer stärkeren Regengüssen entladen. Daher die ganze action am Himmel.

Der zweite, immer noch nicht zwingend polemisch gemeinte Einwand lautet: Wenn wir ab heute weniger CO₂ emittieren, wird das die Hochwasser und Dürren in den kommenden Jahren auch nicht verhindern. Das stimmt, und es liegt daran, dass schon jetzt zu viel CO₂ in der Atmosphäre ist und es Jahrzehnte dauert, bis es dort wieder verschwindet. Anders gesagt, weil dieselben politischen Kräfte, teils sogar dieselben Personen, die heute ihr Rollback betreiben, schon vor zwei oder drei Jahrzehnten die Energiewende verschleppt haben. Deswegen gibt es jetzt diese Hochwasserhäufung. Und die Dürren und die Waldbrände. Wenn wir also heute die Hochwasser zum Anlass nehmen sollten, die Klimaziele ernsthafter anzustreben, statt sie durch das Hintertreiben möglichst aller konkreten Klimamaßnahmen de facto zu schleifen, dann für die Jüngeren (auch bekannt unter dem Namen: unsere Kinder) und für unsere Selbstachtung, um also gewissermaßen nicht zu den Ahnen zu werden, die niemand gehabt haben möchte.

Nächste Schicht: Aber was hilft es gegen die Überschwemmungen in Deutschland, wenn wir das CO₂ reduzieren, aber die Chinesen nicht mitmachen? Zu diesem geläufigen Aber-die-Chinesen-Argument gäbe es viel zu sagen, hier soll nur auf eine logische Konsequenz aus dieser Argumentationsfigur hingewiesen werden: Wer nicht viel tun mag, weil die Chinesen vermeintlich noch weniger tun, der kann ja umso mehr von dem tun, was hier und jetzt und von uns selbst gegen die Folgen der Klimakrise getan werden kann. Und das ist eine ganze Menge.

Höhere Dämme, wie sie jetzt wieder versprochen werden, sind da nur eine besonders teure Lösung und noch dazu nur eine halbe. Denn wenn die Dämme höher sind, ist das Wasser einfach nur woanders. Was stattdessen helfen würde, aber gerade von den Klima-Rollbackern nicht getan wird: Es müssten mehr Flächen geschaffen werden, in die das Wasser bei Starkregen und steigenden Pegeln ablaufen kann. Wenn das keine Städte und Dörfer sein sollen, wo Menschen leben, dann müssen das nach Lage der Dinge landwirtschaftliche Nutzflächen sein, die dann in der Konsequenz nicht mehr vollständig bewirtschaftet werden können, was sehr viel Geld für Entschädigungen kosten wird. Weniger Geld allerdings, als für den Wiederaufbau ganzer Regionen durch die öffentliche Hand benötigt und leichthändig versprochen wird.

Als Nächstes müsste die immer noch fortschreitende Flächenversiegelung gestoppt und dann zurückgeführt werden, es müsste also entsiegelt werden, damit das ganze Wasser in Zukunft an Ort und Stelle langsam versickern kann, anstatt wie von Sinnen zu Tal zu schießen. Kurzum: keine neuen Einfamilienhäuser mehr, Rückbau von Parkfläche, keine neuen Straßen und Autobahnen, so was. Da ist man jetzt schon sehr gespannt auf die entsprechenden politischen Vorstöße, besonders seitens FDP, CSU und Freien Wählern.

Klimapolitische Realitätsverweigerung

Apropos versickern. Gesunde Böden, die ein reiches Leben von Insekten, Würmern und Schnecken aufweisen, können deutlich mehr Wasser aufnehmen als die von Pestiziden und Herbiziden malträtierten und von haushohen Treckern festgestampften Böden, die man zunehmend in der konventionellen Landwirtschaft findet. Auch die von den Klima-Rollbackern erfolgreich bekämpften Vorrangflächen, also Ökobrachen, nehmen natürlich mehr Wasser auf als die gepressten und gefurchten Böden nebendran.

Viele werden sich schon gefragt haben, was eigentlich mit Klimaadaption gemeint sein soll. Sie ist übrigens neben den Chinesen eine der beliebtesten Ausreden: Sollten wir uns nicht besser anpassen, als Klimaschutz zu betreiben? Wobei die Zeit und die Erderwärmung so weit fortgeschritten sind, dass die Welt beides braucht. Die Hochwasseradaption speziell lässt sich politisch kurz folgendermaßen definieren: alles, was die einschlägigen Parteien des Klima-Rollbacks noch massiver bekämpfen würden, als sie es bei den Klimamaßnahmen tun, wenn Adaption nicht mehr nur als Wortwirrnis verwendet, sondern tatsächlich implementiert würde.

Eine Schicht der Verdrängung sei noch nachgetragen. Selbstverständlich sagen diejenigen, die den Green Deal rückgängig machen wollen, nicht, dass sie den Green Deal rückgängig machen wollen. Stattdessen sagen sie: Technologieoffenheit. Sie sagen: weg mit dem Verbrennerverbot (das es freilich gar nicht gibt). Vorgeblich tun sie so, als wollten sie Verbrennermotoren künftig CO₂-emissionsfrei mit E-Fuels betanken oder aber mit veredeltem Frittenfett und anderen Recyclingstoffen. Allerdings ist jenes aus physikalischen Gründen viel zu teuer und dieses aus ernährungsphysiologischen Gründen viel zu knapp. Anders gesagt: So viel Pommes können wir gar nicht essen, wie wir Auto fahren wollen.

Aber um solche zukünftigen Fragen geht es bei der immer wieder aufgelegten Debatte um das angebliche Verbrennerverbot gar nicht. Vielmehr soll diese Diskussion den Leuten suggerieren, was viele wohl auch gern hören werden: Du kannst ruhig weiter Verbrenner kaufen, und der Staat liefert dir dann irgendwann den emissionsfreien Antriebsstoff dazu.
Damit ist die Hauptparole klimapolitischer Realitätsverweigerung aufgerufen, die da lautet: Alles wird sich ändern, ohne dass du irgendwas ändern musst.

Das stimmt zwar nicht, aber die Illusion allein heizt den Verkauf von konventionellen Autos an: Zurzeit haben in Deutschland von zehn verkauften Neuwagen neun (in Zahlen: 9!) einen Verbrennermotor, und nur ein einziger läuft elektrisch. Die Kampagne hat also "Erfolg", die Elektrifizierung des Verkehrs wird massiv verschleppt, immer mehr neues CO₂ gerät dadurch in die Atmosphäre und wird dann in ein oder zwei Jahrzehnten Hochwasser in Bayern forcieren. 


Und dann werden Markus Söder oder sein Nachfolger sagen: aber die Chinesen. 

Oder Friedrich Merz wird sagen: Klimakrise? Da sollten wir nichts überstürzen.


Um diese ganzen Verdrehungen und Verdrängungen auszuhalten, um all die gesagten und verschwiegenen Worte einigermaßen in der Balance halten zu können, dafür braucht eine Gesellschaft, die immer tiefer in die Klima- und Artenkrise geht, logischerweise immer mehr Kraft, wahrscheinlich mehr als sie bräuchte, um sich der Wirklichkeit zu stellen. So gesehen, kann man die eingangs genannte Grundregel auch umkehren: Wenn wir nicht untergehen wollen, dürfen wir vor allem nicht durchdrehen. Und stattdessen endlich realistisch werden.

Klimapolitisch ist diese Woche vor der Europawahl komplett irre. Aber vielleicht ist das ja nur eine Phase.

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