Montag, 11. Oktober 2021

Vorbild-Projekt in Überlingen: Klimaneutral wird’s erst mit Bewohnern

 Südkurier hier

 VON HANSPETER WALTER UEBERLINGEN.REDAKLTION@SUEDKURIER.DE

Es sind oft kleine Dinge, die Menschen ärgern können, wenn sie alten Gewohnheiten zuwiderlaufen. Deshalb gilt es diese Probleme rechtzeitig zu erkennen. Sonst können auch bei ambitionierten Projekten Hindernisse auftreten. Denn man kann noch so viel perfekte Technik und moderne Materialien einsetzen: Ihre Wirkung kann schnell verpuffen oder zumindest gemindert werden, wenn die Menschen nicht mitspielen.

Ein profanes Beispiel wurde beim Tag der offenen Tür der Überlinger Baugenossenschaft im Stadtquartier 2050 immer wieder angesprochen – das gekippte Fenster. Doch dazu später mehr. Mit einem interdisziplinären Zusammenspiel von Architekten und Energiespezialisten, Bauphysikern und Sozialwissenschaftlern soll in Überlingen bis 2023/2024 ein klimaneutrales Wohngebiet mit rund 170 Wohnungen in 14 Gebäuden entstehen. Geschäftsführer Dieter Ressel hieß dazu neben vielen Fachleuten auch Bewohner und Bürger willkommen. Architekt Gerhard Metzger gab mit einer anschaulichen Präsentation einen kompakten Überblick über die verschiedenen Facetten des anspruchsvollen Vorhabens.

Einen der entscheidenden Aspekte auf dem Weg zur Klimaneutralität brachte beim abschließenden Podiumsgespräch Andreas Huther, der nebenamtliche Geschäftsführer der Baugenossenschaft und gleichzeitig Chef des Überlinger Unternehmens Puren, auf den Punkt. „40 Prozent unseres Energiebedarfs wenden wir im Moment für Heizungswärme auf“, sagte Huther: „Das macht rund ein Drittel des Kohlendioxidausstoßes aus.

An verschiedenen Hebeln soll nun angesetzt werden, um insbesondere den Bedarf an fossiler Energie zu mindern – bei der Produktion von Wärme und beim Verbrauch. Womit wir bei dem bereits erwähnten gekippten Fenster wären. Das gibt es in den neuen 14 Gebäuden der Baugenossenschaft nämlich nicht, da über lange Zeit gekippte Fenster sehr viel an Wärmeenergie verloren geht.

Für frische Luft gibt es eine kontrollierte Be- und Entlüftung mit einer wirkungsvollen Wärmerückgewinnung. Wer allerdings einmal Stoßlüften oder die Vögel zwitschern hören will, kann sein Fenster vollständig öffnen. „Wir haben keine Kippfenster eingebaut, damit erst gar niemand in die Verlegenheit kommt“, erklärt Architekt Gerhard Metzger.Dass dies den Bewohnern auch erklärt wird, ist ein wichtiges Anliegen für Sozialwissenschaftlerin Karin Schakib-Ekbatan und ihre Kollegin Annette Roser vom Institute for Resource Efficiency and Energy Strategies (IREES) in Karlsruhe. Sie suchen nicht nur das Gespräch mit den neuen Bewohnern, sondern hatten bereits vor dem Spatenstich Kontakt zu den Anwohnern aufgenommen.

„Rebound-Effekt“ nennt Karin Schakib-Ekbatan vom IREES ein häufig beobachtetes psychologische Phänomen, das geeignet ist, die eigentliche Absicht eines Konzepts zu konterkarieren. Als Beispiel nennt sie LED-Lampen oder umweltfreundliche Antriebe. Wer wisse, dass der Verbrauch hier geringer sei, neige oft dazu, mehr davon zu verwenden oder sie länger einzusetzen. Was den Erfolg mindere. „Deshalb sprechen wir hier statt von Effizienz lieber von Suffizienz“, sagte sie: „Von dem, was mir ausreicht.

Zur eigenen Kontrolle für die Bewohner hat das Fraunhofer-Institut eine spezielle Quartiers-App entwickelt, die nicht nur den individuellen Energieverbrauch darstellt, sondern auch für die Buchung eines Car-Sharing-E-Mobils genutzt werden kann. Aber auch hier kommt es auf die Praktikabilität an. Die interaktive Technik, die hinter der Optimierung gewisser Nutzungen steht, könne durchaus komplex sein, betonte Annette Roser, doch die Bedienung müsse einfach und praktikabel sein.

Neben den Bauphysikern des Fraunhofer-Instituts Karlsruhe war auch Andreas Bachmaier mit dabei, der Energie-Experte des Partners Stadtwerk am See. Er begleitete Führungen zur bestehenden Heizzentrale, von der das gesamte Quartier versorgt wird. Hier ist der andere Hebel zu einer klimafreundlicheren Wärmeerzeugung. Bachmaier erklärte vor Ort, wo die geplante Anlage für Solarthermie entstehen wird.

Nachhaltigkeit ist auch an anderer Stelle wichtig. „Unsere Materialien müssen zu 100 Prozent recyclebar sein“, sagte Andreas Huther, der mit Puren unter anderem für die Entwicklung einer raumsparenden Wärmedämmung verantwortlich ist, „egal, wie lange die Lebensdauer der Gebäude ist“. Energieeffiziente Gebäude nützten allerdings gar nichts, „wenn wir die Menschen nicht mitnehmen“. Auch sie müssten im Alltag ihr Verhalten ändern, betonte Huther. Dies sei auch ein Grund, weshalb es sozialwissenschaftliche Begleitung und Forschung dazu gebe.

Kritik kam in der Diskussion von Zuhörer Christian Kuhn, der die Terminologie kritisierte. „Verwenden Sie doch nicht ständig den Begriff klimaneutral, Sie werden doch nie ganz klimaneutral sein können“, sagte er und verwies auf die Notwendigkeit von ergänzenden Gaskesseln in manchen Wintermonaten.

Die Experten wollten diesen Vorwurf nicht im Raum stehen lassen und machten sogleich eine Gesamtrechnung auf. Zum einen könne hier auch Biogas eingesetzt werden, zum anderen produziere das Quartier über das Jahr gerechnet mit seinen Fotovoltaik-Anlagen mehr Strom als hier gebraucht werde. Der Begriff habe durchaus seine Berechtigung.

Die Landeshauptstadt Stuttgart und die Große Kreisstadt Überlingen arbeiten zusammen mit elf weiteren Partnern am Leuchtturmprojekt „Stadtquartier 2050“. Dabei werden zwei städtische Wohnviertel sozialverträglich klimaneutral umgebaut und die Konzepte auf andere Stadtviertel übertragen. Das Vorhaben ist eines von sechs Gewinnern eines bundesweiten Förderwettbewerbs. Zusätzlich zu den Demonstrationsquartieren arbeiten die Projektpartner an technologischen Fragestellungen sowie an sozialen Themen. Außerdem entwickeln sie vier verschiedene Tools zur Anwendung in Stadtquartieren. Das Leuchtturmprojekt wird von zwei Bundesministerien mit insgesamt 13,5 Millionen Euro gefördert.

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