„Meine sehr geehrten Damen und Herren,
Seit genau 100 Jahren - nämlich seit dem Jahre 1919 - begehen wir in Deutschland den Volkstrauertag.
Er sollte ursprünglich an die 17 Millionen Menschen erinnern, die in den 4 Jahren des 1. Weltkrieges ums Leben gekommen waren.
Der Volkstrauertag war als Zeichen der Solidarität gedacht.
Solidarität derer, die keinen Verlust zu beklagen hatten, mit denen , die um ihre Angehörigen trauerten.
Der Gedanke von Versöhnung und Verständigung sollte fortan im Mittelpunkt stehen - welch ein schöner Gedanke!
Unter den Nationalsozialisten wurde der Volkstrauertag plötzlich zum „Heldengedenktag“ ausgerufen.
Schon dieser Ausdruck alleine muss nachdenklich machen - wer sehnt sich in Friedenszeiten nach Heldentum auf dem Schlachtfeld?
Vor genau 80 Jahren wiederum begann dann der Zweite Weltkrieg und damit ein historisch beispielloser Angriff auf die Menschlichkeit, eine Zerstörung aller kulturellen Ideale, ein Absturz, wie es ihn bis dahin nicht gegeben hatte
Über 65 Millionen Menschen wurden getötet. Es kamen mehr Zivilisten um , als Soldaten bei Kampfhandlungen.
Beide
Kriege haben unermessliches Leid über die Menschen gebracht.
Wenn wir uns heute daran erinnern, dann auch deshalb , weil wir aus unserer
Vergangenheit lernen wollen. Geschichte alleine
liefert uns keine Anleitung, wie wir es besser machen können. Aber sie kann uns helfen zu verstehen, warum es zu all dem Leid kam.
Nur wer sich erinnert, kann aus der Vergangenheit lernen, um eine besseren
Zukunft zu gestalten. Deshalb verdient es jede Geschichte, erzählt zu werden,
und jedes Opfer verdient es, dass man sich seiner erinnert.
Die Weltkriege liegen inzwischen viele Jahrzehnte zurück. Aber ihre Schatten sind lang. Die Spuren, die sie hinterlassen haben, prägen noch heute Familien.
Wir Älteren kennen noch alle die Erzählungen von Verlust und Todesgefahr, von Flucht und Vertreibung und Hunger.
Auch in uns - in den Menschen der nächsten Generationen wirkt das Erlebte unser Eltern und Großeltern nach. Die seelischen Narben dieser Erfahrungen sind immer noch zu spüren, denn das verlorene Vertrauen in die Menschheit und deren Menschlichkeit liegt viel zu tief .
Umso wichtiger ist es, diese Starre zu lösen, miteinander darüber zu reden, was Kriege und Unmenschlichkeit – nicht nur äußerlich sichtbar – mit den Menschen anrichten können.
Noch gibt es sie, die Zeitzeugen im Familien- und Freundeskreis, die aus erster Hand von diesem Leid erzählen können. Der heutige Volkstrauertag ist ein guter Anlass, um diesen Faden aufzunehmen.
Um zu fragen: Wie war das damals? Was habt ihr empfunden? Was hat euch Angst gemacht? .
Nutzen wir also die Gelegenheit, sprechen wir miteinander über das, was war. Auch wenn es nicht leicht fällt.
Meine eigene Schwiegermutter hat mir das Geschenk gemacht, dass sie vor ihrem Tod angefangen hat zu erzählen. Es war nicht leicht zu ertragen für mich, es waren harte und grausame Erinnerungen dabei. Und doch empfinde ich es heute als Geschenk, dass sie es mir nach so vielen Jahren des Schweigens noch anvertrauen konnte.
Gottseidank liegen die Kriegserfahrungen unseres Landes mittlerweile 7
Jahrzehnte zurück.
Wir können hier in Deutschland auf eine so lange Friedenszeit zurück blicken, wie noch
keine andere Generation vor uns.
Und das in einer Welt, in der rings um uns herum bewaffnete
Konflikte schwelen, die jedes Jahr unzähligen
Menschen das Leben kosten und viele Menschen aus ihrer Heimat vertreiben. Auch
manche dieser Menschen leben heute unter
uns und tragen grausame Erinnerungen an eine verlorene Menschlichkeit in ihrem
Herzen.
Die Menschen nach dem Krieg haben aus den Geschehnissen gelernt und Strukturen geschaffen, die weitere Kriege verhindern sollen: Die Gründung der Vereinten Nationen und ein vereintes Europa gehören dazu.
Streit
wird heute anders gelöst - Jean-Claude
Juncker sagt über die EU: „Manchmal streiten wir. Aber wir streiten mit Worten.
Und wir lösen unsere Konflikte am Verhandlungstisch, nicht in
Schützengräben.“
Für die Verbreitung von Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte hat
die EU 2012 den Friedensnobelpreis bekommen.
Doch
heute müssen wir erkennen: es gibt Gegenbewegungen dazu. Der Ton wird
schärfer.
Friede und Demokratie , die für uns immer
ganz selbstverständlich waren, sind
selbst bei uns nicht mehr unantastbar.
Wir müssen wachsam sein und selbst dafür
einstehen, jeder Einzelne von uns.
Toleranz und gegenseitige Achtung sind Werte,
die nur durch eigenes Handeln am Leben
gehalten werden.
Dialog ist nicht leicht, es bedeutet sein Herz zu öffnen und das Leben des
Anderen einen Teil der eigenen Welt
werden zu lassen. Nur so kann
Gemeinschaft entstehen. Aber warum ist das so schwer? Weil es bedeutet, dass
sich die eigene Welt verändert.
Es erscheint oft so viel leichter die
Anderen aus der eigenen Welt herauszuhalten.
Aus den Erfahrungen der Vergangenheit schrieben die Väter des Grundgesetzes 1949 drei Sätze ins Stammbuch der Deutschen:
- Die Würde des Menschen ist unantastbar.
- Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
- Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.
Sie haben uns damals die Verpflichtung mit auf den Weg gegeben, aktiv für den Frieden zu kämpfen - aus der eigenen Erfahrung von Krieg und Leid heraus.
Wir sind nicht allmächtig, aber unsere Aufgabe ist es , uns hier in diesem Land spalterischem Populismus und Akten sinnloser Gewalt entgegen zu stellen, um allen Menschen die gleiche Würde und Toleranz entgegen zu bringen, die wir auch für uns selbst einfordern.
Es erfordert manchmal großen Mut, unsere Menschlichkeit am Leben zu halten, auch wenn die äußeren Umstände schwieriger werden - doch wir alle stehen in der Verantwortung für den Erhalt des Friedens.